Living 04

Die Hohe Schule des schönen Scheins

In der Brüsseler Malschule van der Kelen werden wie vor 100 Jahren die Geheimnisse der Wanddekoration gelehrt

Es gibt sie noch. Menschen, die eben nicht Steuerberater, Arzt oder Flugkapitän werden wollen. Nein, für sie gilt eine solch anerkannte Karriere nicht als Krönung ihres Lebens. Denn sie haben sich etwas ganz Spezielles in den Kopf gesetzt. Sie möchten ihr Geld mit dem Malen von grün gemustertem Marmor oder Kulissen für das Ballet ?Schwanensee? zu verdienen. Sie wollen lernen, wie man private Schwimmbäder mit indischen Landschaften dekoriert oder tanzende Nymphen auf Schlafzimmerdecken zaubert. Viele dieser angehenden Kunsthandwerker bewerben sich bei Madame Denise van der Kelen in Brüssel, in der Hoffnung für sechs Monate ihre berühmte Privatschule besuchen zu können. Nur rund 30 Schüler dürfen pro Jahr ihre Staffelei im historischen Atelier mit seinem Glasdach aufstellen und dicht an dicht gedrängt in klösterlicher Stille die Grundlagen der Dekorationsmalerei erlernen. ?Mein Institut ist eine Lebensschule?, sagt die 61jährige Prinzipalin, die das Familienunternehmen in dritter Generation führt. Die rigoros ausgewählten Teilnehmer leben von Oktober bis März in einer Art Arbeitsrausch. Selbstbeherrschung ist nicht nur beim Malen, sondern auch im Alltag oberstes Gebot, Pünktlichkeit selbstverständlich, Reden während des Arbeitens verpönt. Van der Kelen ? diese drei Worte sind in der Fachwelt seit 120 Jahren die Referenz für eine solide Ausbildung als Dekorationsmaler. Nicht umsonst spürt man in den Wänden der Schule immer noch den anspruchsvollen Geist der akademischen Malerei, der bis heute in der Künstlerfamilie van der Kelen wachgehalten wird. Die Schule entstand zu Ende des 19. Jahrhunderts aus der Fusion von zwei Brüsseler Malakademien und wurde unter dem Gründer Alfred van der Kelen schnell berühmt. Sein Sohn Clément, ein Altmeister mit schillernder Persönlichkeit, führte die ?Ecole de peinture? bis zu seinem Tod Mitte der 90er Jahre im alten Stil fort. Nach Cléments Tod übernahm seine Frau Denise die Leitung. Und auch das nächste Mitglied der Familie, die 30jährige Tochter Sylvie, ist bereit, das Familienunternehmen zu gegebener Zeit zu fortzuführen.

Auf das kulturelle Erbe ihrer Institution ist die Familie van der Kelen stolz ? und hält an den pädagogischen Traditionen fest. So gibt es pro Jahr nur ein Semester ? in den ungemütlichen Wintermonaten. Diese Arbeitsperiode geht auf das ?Winterloch? der Fassadenmaler des 20. Jahrhunderts zurück, die wegen des schlechten Wetters während dieser Zeit keine Aufträge bekamen und die arbeitslose Zeit nutzten, um sich weiterzubilden. Auch wenn diese Saisonarbeit heute nicht mehr existiert, öffnet das Institut nur im Winter. ?Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich die Studenten in der kalten Jahreszeit leichter konzentrieren können und abends gerne für sich arbeiten. An lauen Sommerabenden sind sie abgelenkt, gehen auf romantische Spaziergänge ? und das können wir bei unserem intensiven Arbeitsrhythmus nicht brauchen?, sagt Frau van der Kelen.

Das Arbeitspensum ist tatsächlich enorm und fordert alle Kräfte. Von 8:40 Uhr bis 18:30 Uhr unterrichten fünf Dozenten Theaterdekoration, Illusionsmalerei, Werbeschrift, klassische Bildzeichnung und Stein- und Holzimitation. Nach dem Abendessen müssen die Schüler dann noch in ihren Studentenbuden die Hausaufgaben erledigen ? oft bis spät in die Nacht. Nur durch wiederholte Übung lernen sie, was leicht aussieht, aber schwer zu realisieren ist: Die Natur nachzuahmen, den Effekt ihrer Materialien kreativ einzusetzen und neue Kompositionen zu schaffen. Sie stehen damit in der Nachfolge der Maler im Alten Ägypten und Rom, die prachtvolle Häuser mit Marmormustern dekorierten. Bis heute ist das Imitieren von Marmor kostengünstiger als der Einsatz echten Steins ? und ein Kunstmaler kann zum Beispiel die Maserung und Farbgebung genau auf das Interieur des Auftraggebers abstimmen.

Lediglich ein Bruchteil der Kandidaten aus aller Welt entspricht den Anforderungen der Schule. ?Wir suchen Menschen, die sehr gut zeichnen und außergewöhnlich genau beobachten können?, sagt Denise van der Kelen. Alter und Herkunft spielen bei der Aufnahme keine Rolle, nur das Talent. So lernen hier japanische Abiturienten Schulter an Schulter mit erfahrenen Dekorateuren aus Italien und belgischen Damen, die eine zweite Karriere starten wollen. Jeder Student hat ein anderes Motiv. So gibt es sehr wissenschaftlich interessierte Schüler, die von Holzstrukturen fasziniert sind, aber auch freie Künstler, die von einer Hochschule der Schönen Künste kommen. ?Schüler, die gelernt haben, sich die Seele aus dem Leib zu malen, müssen bei uns erst einmal Selbstkontrolle lernen?. Darunter versteht die gestrenge Lehrerin: ?Genauigkeit der Handbewegungen, sparsamer Einsatz an Energie, Geduld für das Detail ? und die Bereitschaft ohne Murren eine Woche lang an einer Eichenmaserung zu malen.? Doch bei allem Prestige, das die Van-der-Kelen-Schüler bei Eingeweihten umgibt ? die stolzen Absolventen werden immer wieder von besorgten Freunden und Eltern gefragt: ?Und wovon willst Du nun leben?? Denn wie verdient man Geld mit einem Diplom, dass einem bescheinigt, in perfekter Manier schöne Wolken malen zu können? Tatsächlich gibt es keine Standardlaufbahn nach Abschluss der Schule. ?Als Dekorationsmaler muss man eine gewisse Risikofreude haben, lernen, Aufträge an Land zu ziehen und mit unregelmäßigen Einkommen zu leben?,? erklärt die Leiterin der Schule ganz offen. Denn mit dem Diplom in der Tasche werden die hochqualifizierten Kunsthandwerker nicht vom Fleck weg engagiert wie andere High Potentials. Viele bekommen ihre ersten Aufträge über Bekannte, und nach dem Schneeballprinzip weitet sich dann ihr Kundenkreis aus. Andere Absolventen finden eine Stelle als Dekorationsmaler bei Büros für Inneneinrichtung, beim Fernsehen oder als Restaurator.

Die beiden ehemaligen Kelen-Schülerinnen Stephanie Hoyos und Sophie Trauttmansdorff sind mit ihrem in Vösendorf bei Wien angesiedelten Atelier ein gutes Beispiel dafür, wie eine erfolgreiche Karriere als Imitationsmaler aussehen kann. ?Wer in diesem Beruf etwas erreichen möchte, muss nicht nur eine solide Ausbildung haben, sondern stetig dazulernen und bereit sein ständig zu reisen?, sagen die Kunsthandwerkerinnen. Ihr Unternehmen florierte nach ersten Aufträgen für Privatleute relativ schnell, da große Unternehmen, Restaurants und öffentliche Auftraggeber auf ihre Arbeit aufmerksam wurden und ihnen freie Hand bei der Gestaltung von Treppenhäusern, Empfangsräumen und Büros ließen. Das seit Brüsseler Schultagen unzertrennliche Duo lebt das ganze Jahr über aus dem Koffer, da es von Baustelle zu Baustelle reist. ?Als Dekorationsmaler gibt es keine Trennung von privatem und beruflichem Lebensrhythmus? ? diese Botschaft geben sie auch an die Praktikanten weiter, die heute mit ihnen arbeiten. So sind die beiden jungen Malerinnen gerade von einem 3-monatigen Aufenthalt aus St. Petersburg zurückgekehrt, wo sie für das russische Staatsmuseum zusammen mit russischen Handwerkern das Hauptstiegenhaus im Myhailovsky Castle neu mit Stuccolustre ausgestattet haben. ?Diese alte Technik für Marmorimitation ist so aufwändig, dass sie im Westen nicht mehr erlernbar ist. Für uns war es eine Riesenchance, diese 300 Jahre alten Kunstgriffe von den russischen Handwerkern lernen zu können?, schwärmen sie. Wie wichtig lebenslanges Lernen für den Beruf ist, bestätigt auch ihre ehemalige Lehrerin in Brüssel. ?Erst nach fünf bis zehn Jahren bringt man es als Dekorationsmaler zu großer Perfektion und kann zügig arbeiten. Dafür besitzt ein solches Leben eine große Magie: Denn wer sonst kann mit dem Schaffen von Illusionen auf der ganzen Welt Geld verdienen??

Heute wird auch hin und wieder in anderen Berufen mit mehr oder minder seriösen Illusionen Gewinn gemacht ? aber mit Resultaten, die längst nicht mit solchem Genuss anzusehen sind wie die der Meister des schönen Scheins.

INFO:
Institut Supérieur de Peinture van der Kelen ? Logelain
Rue du Metal, 30
B ? 1060 Brüssel
Telefon: 0032 2 537 53 85

Von Stefanie von Wietersheim